Wie Unternehmen ihre instabile Plattform stabilisieren: Ein CTO-Playbook für Systeme, die unter Wachstum zusammenbrechen

CTO werden – mehr als nur ein Karriereschritt

Jedes schnell wachsende Tech-Unternehmen erlebt irgendwann denselben Moment: Die Plattform beginnt zu wackeln. Zuerst kaum sichtbar – ein paar unerwartete Alerts, vereinzelte Kundenbeschwerden, sporadische Ausfälle. Doch mit zunehmendem Wachstum werden die Probleme häufiger, tiefgreifender und teurer.

Plötzlich wirkt das eigene System nicht mehr wie eine kontrollierte, verlässliche Plattform, sondern wie ein fragiles Gefüge aus Abhängigkeiten, historischen Entscheidungen und technischen Schulden.

Und viele Unternehmen stehen dann vor der gleichen Frage:

Was tun, wenn die eigene Plattform unter dem Wachstum zusammenbricht?

Dieser Beitrag liefert ein strukturiertes, praxisnahes Playbook für CTOs, Heads of Engineering und technische Führungskräfte, die genau in dieser Situation stecken.

1. Wachstum überholt die technischen Grundlagen

Plattformprobleme beginnen selten mit einem großen Knall.
Sie beginnen mit Erfolg.

Unternehmen wachsen schneller, als ihre technischen Entscheidungen mitwachsen können:

  • zu viele Features in zu kurzer Zeit

  • fehlende Konsolidierungsphasen

  • ein Architekturdesign, das nie für die heutige Last gedacht war

  • Teams, die unter hohem Druck weitere Kompromisse eingehen

  • Prozesse, die auf die Geschwindigkeit der Anfangszeit optimiert sind

Viele Branchen verstärken dieses Problem:

  • Sportwetten

  • Online-Gaming

  • E-Commerce

  • SaaS mit hoher Nutzungsfrequenz

  • Finance / Payments

Hier bedeutet jede Sekunde Downtime Umsatzeinbußen, unzufriedene Nutzer und – je nach Regulatorik – sogar rechtliche Risiken.

Die Wahrheit:

Die meisten Plattformen brechen nicht wegen eines Fehlers ein, sondern weil das Unternehmenswachstum ihre technische Reife überholt hat.

2. Warum „Fixen“ das Problem nicht löst

Die erste Reaktion ist immer dieselbe:

  • Patchen

  • Neustarten

  • Revertieren

  • Hotfixes

  • Firefighting

Das löst Symptome – aber nicht das Systemproblem.

Typische Anzeichen, dass „Fixen“ nicht mehr reicht:

Typische Symptomketten

  • Kunden melden Fehler früher als das Monitoring → Beobachtungsproblem

  • Alerts lösen aus, aber niemand reagiert → Alert-Fatigue

  • Teams verlieren Überblick → Kommunikationsproblem

  • Incidents wiederholen sich → Problem-Management fehlt

  • Releases wirken unvorhersehbar → Komplexität außer Kontrolle

  • Niemand owns das System ganzheitlich → fehlende Verantwortungsarchitektur

Was hier fehlt, ist kein Talentproblem.
Es ist ein Strukturproblem.

Je größer und schneller das Unternehmen wächst, desto wichtiger wird operationale Exzellenz – nicht nur technische Qualität.

3. Stabilisierung: Die notwendige Grundlage

Bevor über Rewrites, Modernisierung oder neue Architekturen gesprochen werden kann, braucht es Stabilität.

Stabilisierung bedeutet:

Die Umgebung kontrollieren, bevor sie dich kontrolliert.

Und das gelingt nur durch drei zentrale Bausteine.


3.1 Monitoring & Alerting: Früher wissen als der Kunde

Ein System ist erst stabil, wenn du Probleme erkennst, bevor Kunden sie tun.

Dazu gehören:

1. Synthetic Checks

Regelmäßige externe Checks aus verschiedenen Regionen, die kritische Endpunkte testen.
Wichtig, wenn internes Monitoring ein falsches Bild liefert.

2. Service-Health-Indikatoren

Nicht: „Der Service antwortet mit Status 200“.
Sondern:

  • Fehlerquoten

  • Queue-Längen

  • Latenzen

  • DB-Connectivity

  • Timeouts

3. Latenzschwellen

Hohe Latenz ist oft der Vorbote eines Ausfalls.
p95/p99 müssen klar definiert und überwacht werden.

4. Deduplication & Unified Alert Streams

Ein einziger, klarer Alarm ist wertvoller als 40 parallele Signale.
In komplexen Microservice-Architekturen ist das überlebenswichtig.

5. SLOs mit Konsequenzen

Ein SLO ist kein Poster, sondern ein Regelinstrument:
SLO verletzt → Features stoppen → Stabilisierung zuerst.

6. Nur Alerts, die wirklich wichtig sind

Weniger ist mehr.
Ein Alarm, der ernst genommen wird, ist wertvoller als 10, die ignoriert werden.


3.2 Incident Response: Struktur statt Chaos

Incidents richten selten durch den Fehler selbst den größten Schaden an –
sondern durch verzögerte, unkoordinierte oder chaotische Reaktionen.

Vier Rollen sind essenziell:

  • Incident Commander – trifft Entscheidungen, steuert

  • Communications Lead – informiert Stakeholder

  • Subject Matter Experts – beheben das Problem

  • Scribe – dokumentiert den Verlauf

Diese Rollen müssen erfüllt werden – notfalls von nur ein bis zwei Personen in kleineren Teams.
Entscheidend ist die Funktion, nicht die Anzahl.


3.3 Klare Kommunikationsrhythmen

Der größte Beschleuniger in Incidents ist Transparenz:

  • regelmäßige Statusupdates (z. B. alle 10 Minuten)

  • kein Raten

  • keine halbgaren Theorien

  • klare Ansagen, klare Verantwortlichkeiten

Struktur beruhigt Teams.
Und ruhige Teams lösen Probleme.

4. Wenn Firefighting zur Norm wird

Es gibt einen kritischen Punkt, an dem Teams nicht mehr merken, wie ungesund ihre Arbeitsweise geworden ist:

  • permanente Rufbereitschaft

  • „nur noch ein kleiner Fix“ am Freitag um 18 Uhr

  • implizite Hero-Kultur

  • Angst vor Deployments

  • steigende Fehlerquote

  • Burnout-Risiko

  • Misstrauen zwischen Tech, Product und Business

Was hier fehlt, ist kein Engagement – es fehlt operationale Hygiene.

Die Lösung heißt:

Change Management und klare Release-Prozesse

Nicht schwergewichtig.
Nicht bürokratisch.
Sondern:

  • Was wird deployed?

  • Welche Risiken gibt es?

  • Was ist das Rollback?

  • Wer muss informiert werden?

  • Was darf gleichzeitig live gehen?

Bereits diese kleine Disziplin verhindert viele Ausfälle.

5. Incidents vs. Probleme: Zwei unterschiedliche Aufgaben

Viele Teams vermischen Incident- und Problem-Management.

Der Unterschied ist entscheidend:

Incident Management

→ Service sofort wiederherstellen
→ „Firefighting“ ist hier ok
→ Geschwindigkeit ist wichtiger als Perfektion

Problem Management

→ Ursache verstehen
→ strukturelle Schwachstelle beheben
→ nachhaltig statt reaktiv

Teams, die beides verwechseln, verlieren entweder:

  • Geschwindigkeit (zu viel Analyse im Incident) oder

  • Nachhaltigkeit (zu wenig Analyse danach)

Beides ist gefährlich.

6. Die große Frage: Rebuild, Refactor oder Weiterbetrieb?

Sobald die Plattform stabilisiert ist, kommt die strategische Entscheidung.

Wann ein Rebuild notwendig wird

  • Architektur-Deadlocks

  • untestbare kritische Komponenten

  • zunehmende Regressionen

  • Experten-Monopole („nur eine Person versteht das System“)

  • nicht skalierbare Strukturen

Wann ein Rebuild gefährlich ist

  • unklare Anforderungen

  • instabile Führung

  • kein Team, das sich ausschließlich darauf konzentrieren kann

  • fehlende Feature-Freeze-Phasen

  • hoher kurzfristiger Lieferdruck

Die Realität für die meisten Unternehmen: Hybrid

  • schrittweises Herauslösen kritischer Komponenten

  • Umschichtung von Funktionen in stabile Services

  • Modernisierung der Ränder, bevor der Kern angefasst wird

  • Migration Stück für Stück, nicht auf einen Schlag

Rebuild ist kein Hebel – es ist ein langfristiges Transformationsprojekt.

7. Der menschliche Faktor: Vertrauen entscheidet über Stabilität

Technische Stabilität scheitert selten an Technik.
Sie scheitert an:

  • fehlender Kommunikation

  • politischen Silos

  • Vendor-Misstrauen

  • Angstkultur

  • Schuldzuweisungen

  • Informationsverlust

  • mangelnder Führungsklarheit

Wer stabilisieren will, braucht:

  • transparente Kommunikation

  • psychologische Sicherheit

  • respektvolle Zusammenarbeit mit Dienstleistern

  • klare Verantwortlichkeiten

  • konsequente Eskalationsketten

Technologie stabilisieren heißt immer auch: Menschen stabilisieren.

8. Postmortems: Lernen statt wiederholen

Postmortems sind kein Ritual, sondern ein Werkzeug.
Die besten Organisationen:

  • dokumentieren jeden schweren Incident

  • analysieren ohne Schuldzuweisung

  • veröffentlichen Learnings intern

  • verfolgen Maßnahmen nach

  • bauen aus Fehlern Prozesse

Ein gutes Postmortem beantwortet:

  • Was ist passiert?

  • Warum ist es passiert?

  • Wie hätte es früher erkannt werden können?

  • Wie verhindern wir die Wiederholung?

Je konsequenter Postmortems sind, desto flacher werden die Ausfallkurven.

9. Fazit: Stabilität ist keine Frage der Tools, sondern der Führung

Die harte Wahrheit lautet:

Plattformen brechen nicht plötzlich.
Sie brechen über Jahre – und dann auf einmal.

Stabilität entsteht durch:

  • Klarheit

  • Struktur

  • Ownership

  • Disziplin

  • Transparenz

  • konsequentes Priorisieren

  • Führung, die Realität ernst nimmt

Nicht durch Heldentum.
Nicht durch Tempo.
Nicht durch Druck.

Stabile Plattformen entstehen durch konsistente, ruhige, wiederholbare Prozesse, die Teams entlasten und Systeme berechenbar machen.

10. Die CTO-Stabilisierungscheckliste (Download-tauglich)

Kurzfassung:

  1. Synthetic Monitoring etablieren

  2. Alerts vereinheitlichen

  3. Incident-Rollen definieren

  4. Dienstplan & Escalation Chain aufsetzen

  5. Change Board einführen

  6. Postmortems verpflichtend machen

  7. Availability-Metrik einführen

  8. MTTR/MTTD/MTBF messen

  9. Produktions-Runbooks erstellen

  10. Tribal Knowledge abbauen

  11. Abhängigkeiten kartografieren

  12. Rebuild-Kandidaten erkennen, aber erst später angehen

Diese Liste ist kein „Nice to Have“.
Sie ist die minimale Überlebensstruktur.

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